Ein „neuer“ Vermeer in Dresden
07. Mai 2019Ein „neuer“ Vermeer in Dresden
Das weltweit bekannte und verehrte Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ von Johannes Vermeer wird nach mehr als zweieinhalb Jahrhunderten wieder so zu sehen sein, wie es das Atelier des Künstlers verließ. Frühere Röntgenuntersuchungen gaben Hinweise auf die Übermalung eines Bildes mit der Darstellung eines nackten Cupidos. Jetzt belegen neue Laboruntersuchungen zweifelsfrei, dass die Übermalung nicht von Vermeers Hand stammt. Auf dieser Grundlage hat die Gemäldegalerie Alte Meister im Zuge der aktuellen Restaurierung des Bildes entschieden, die Übermalungsschicht zu entfernen. Um die Öffentlichkeit am Restaurierungsprozess teilhaben zu lassen, wird die „Briefleserin“ in ihrem gegenwärtigen Zwischenzustand vom 8. Mai bis zum 16. Juni 2019 in der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau präsentiert.
Johannes Vermeers (1632–1675) „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657/59)
Johannes Vermeers (1632–1675) „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ (um 1657/59) zählt seit langem zu den Hauptwerken der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Für die Sammlung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. wurde es 1742 in Paris erworben. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurde die „Briefleserin“ in Dresden bereits mehrfach restauriert. Für die 2017 begonnene umfassende Restaurierung des Gemäldes konnte man zudem auf zahlreiche bereits vorliegende Untersuchungsergebnisse zurückgreifen. Seit einer 1979 angefertigten Röntgenaufnahme des Bildes ist bekannt, dass sich an der Wand im Hintergrund des Zimmers ein vollständig übermaltes „Bild im Bild“ mit einem nackten Cupido befindet. Annaliese Mayer-Meintschel veröffentlichte diesen Fund 1982, er fand Eingang in zahlreiche Publikationen. Seitdem ging die Wissenschaft davon aus, dass Vermeer das Cupido-Bild verwarf und die Rückwand des Raumes selbst übermalte.
Nachdem an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Vermeers „Bei der Kupplerin“ von 2002 bis 2004 erfolgreich restauriert wurde, rückte die „Briefleserin“ zunehmend in den Fokus. Im Frühjahr 2017 begann die umfassende Restaurierung des Kunstwerks, die durch den Gemälderestaurator Christoph Schölzel ausgeführt wird. Die Leitung des Forschungs- und Restaurierungsprojektes liegt bei Stephan Koja, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister und der Skulpturensammlung bis 1800; Uta Neidhardt, Oberkonservatorin der Gemäldegalerie Alte Meister und der Leiterin der Restaurierungswerkstatt der Gemälde Marlies Giebe. Zudem fördert Michael Mäder, Physiker der Abteilung Forschung und wissenschaftliche Kooperation an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die interdisziplinäre Vernetzung des Projektes. Als Kooperationspartner der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist das Labor für Archäometrie der Hochschule für Bildende Künste Dresden unter der Leitung von Christoph Herm eingebunden.
Das Projekt wird begleitet von einer internationalen Expertenkommission mit Fachkolleg*innen aus Amsterdam, Dresden, Kopenhagen, Washington und Wien, die in regelmäßig stattfindenden Treffen beratend zur Seite steht. Die laufende Restaurierung fußt zudem auf umfangreichen Forschungsergebnissen zum Werk von Johannes Vermeer, die bei Gemälderestaurierungen in anderen großen Sammlungen innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte vorgelegt wurden.
Für sein Alter ist das Gemälde in einem guten, konservatorisch stabilen Zustand. Seine Oberfläche war von stark nachgedunkelten Firnisschichten und alten Retuschen bestimmt, die einen wichtigen Grund zur Restaurierung darstellten. Die Firnisschichten beeinträchtigten die Farbwirkung des Gemäldes stark und wurden in einem ersten Arbeitsschritt abgenommen. Jetzt erscheint das Bild wieder in der vom Maler beabsichtigten subtilen, kühlen Farbigkeit.
In den vergangenen Jahren wurden in Dresden Röntgen- und Infrarotreflektografieaufnahmen sowie Mikroskopuntersuchungen erneut ausgewertet. Zu diesen kamen eine genaue Analyse der Bildträgerleinwand und Recherchen zur Restaurierungsgeschichte. Mehrere Farbproben wurden aus Vermeers Gemälde entnommen und im Labor für Archäometrie der Hochschule für Bildenden Künste Dresden hinsichtlich ihrer Schichtung und Konsistenz analysiert. Diese aktuellen Untersuchungen waren entscheidend für eine Neubewertung der großflächigen Übermalung des Cupidos im „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“. In deren Auswertung kann nun mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Übermalung nicht von Vermeer stammt, sondern mindestens mehrere Jahrzehnte nach Entstehung des Gemäldes und deutlich nach Vermeers Tod aufgebracht wurde. Eine ganzflächige Röntgenfluoreszenzuntersuchung des Bildes, die 2017 mit Unterstützung des Rijksmuseums Amsterdam durchgeführt wurde, bestätigte die neuen Erkenntnisse zur Übermalung.
Aufgrund der Vielzahl der Indizien, die die Aussage zur nachträglichen Übermalung von fremder Hand stützen, beschlossen die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Anfang 2018, unterstützt durch die Expertenkommission, die Übermalungsschicht zu entfernen.
Der Restaurierungsvorgang erweist sich als sehr anspruchsvoll, komplex und äußerst zeitaufwendig. Christoph Schölzel führt bei hoher Mikroskopvergrößerung die Abnahme der Übermalungsschicht mit dem Skalpell durch. Nur diese Methode ermöglicht die Erhaltung der vorhandenen Reste einer Firnisschicht auf der originalen Farbe Vermeers. Vermutlich handelt es sich hierbei um die letzte noch existierende originale Firnisschicht Vermeers.
In Anbetracht der notwendigen Präzisionsarbeit ist von mindestens einem weiteren Jahr Arbeitszeit auszugehen, bevor die Restaurierung des Gemäldes abgeschlossen werden kann. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zeigen daher Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ vom 8. Mai bis zum 16. Juni 2019 in seinem gegenwärtigen Zwischenzustand in der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau.
Das Restaurierungs- und Forschungsprojekt zu Vermeers „Briefleserin“ wird durch eine großzügige Förderung der Hata Foundation Amsterdam/Tokyo ermöglicht.
Stephan Koja, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister und der Skulpturensammlung bis 1800:
„Nur rund drei Dutzend Gemälde von Johannes Vermeer sind in der Forschungswelt bekannt. Die Gemäldegalerie Alte Meister ist in der glücklichen Lage sogar zwei Meisterwerke des Delfter Malers zu besitzen. Das 1656 entstandene Bild „Bei der Kupplerin“ wurde bereits 2002 bis 2004 umfassend restauriert, nun freuen wir uns sehr darüber, dass durch die großzügige Unterstützung der Hata Foundation auch die Restaurierung des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ realisiert werden kann und sich das Gemälde nach Fertigstellung in sensationell neuer Erscheinung präsentieren wird – und wir damit einen bedeutenden Beitrag zur Vermeer-Forschung leisten können.“
Marlies Giebe, Leiterin der Restaurierungswerkstatt Gemäldegalerie Alte Meister:
„Mit der Restaurierung des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ erzielen wir einen Wiedergewinn der bekannten frischen Farbigkeit Vermeers in einem Gemälde, das an einem wichtigen Wendepunkt in Vermeers Schaffen einzuordnen ist. Zugleich erlangen wir Antworten auf unterschiedliche Hypothesen zur Bildfindung und zur Geschichte des Bildes. Der interessierten Öffentlichkeit bieten wir ab heute die einmalige Möglichkeit, unsere Befunde direkt am originalen Gemälde zu betrachten, näher kann man der Arbeit des Restaurators nicht kommen.“
Uta Neidhardt, Oberkonservatorin der Gemäldegalerie Alte Meister:
„Schon jetzt, nachdem die Abnahme der Übermalung im Hintergrund des „Brieflesenden Mädchens“ etwa zur Hälfte vollzogen ist, zeigt sich eine erstaunliche Veränderung der Bildwirkung: Die Elemente der Verhüllung und des Verbergens spielen in diesem Frühwerk Vermeers eine weniger dominierende Rolle, als die im Hintergrund von fremder Hand veränderte Komposition zweieinhalb Jahrhunderte lang vermuten ließ.“
Christoph Schölzel, Restaurator der Gemäldegalerie Alte Meister:
„Hat schon die Abnahme des stark gealterten Firnisses das uns gewohnte Erscheinungsbild des „Brieflesenden Mädchens“ grundlegend verändert, so stellt die Entfernung der Übermalung über dem Hintergrundbild eine völlig neue Realität in dem Bild her. Plötzlich fügt sich das Dresdner Gemälde zwanglos in die anderen verschränkten Kompositionen des Meisters ein und die kühle, subtile Farbigkeit mit den bisweilen pastos eingesetzten Farbtupfen rückt es zeitlich noch näher zur berühmten „Milchmagd“ in Amsterdam.“
Arthur K. Wheelock Jr., ehem. National Gallery Washington, Mitglied der Expertenkommission:
„Die sorgfältige, mehrjährige Restaurierung von Vermeers „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“ in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister hat spannende neue Erkenntnisse über das ursprüngliche Erscheinungsbild dieses wunderbaren und stimmungsvollen Meisterwerks ergeben. Nun da die Übermalung, die ein wichtiges Element des Gemäldes verdeckt hatte, entfernt ist, betrachten wir dieses Kunstwerk mit gänzlich neuen Augen, während wir auch weiterhin Vermeers Gespür für Licht, Farbe und kompositorische Harmonie bewundern.“
Shinji Hata, Direktor der Hata Foundation Amsterdam/Tokio:
„Die Hata Foundation schätzt sich glücklich, dass sie die Restaurierung eines so bedeutenden Werkes von Johannes Vermeer unterstützen konnte. Die Gemälderestaurierungswerkstatt der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden besitzt seit der Konservierung von Vermeers Gemälde „Bei der Kupplerin“ einzigartige Expertise in Bezug auf die Maltechnik des Künstlers.“