Ein Liebesgott taucht auf: Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ vollständig restauriert
Im Rahmen eines 2017 begonnenen und von einer internationalen Expert*innenkommission begleiteten Restaurierungs- und Forschungsprojektes wurden in den vergangenen Jahren Röntgen- und Infrarotreflektografieaufnahmen sowie Mikroskopuntersuchungen durchgeführt oder erneut ausgewertet. Hinzu kamen eine genaue Analyse der Bildträgerleinwand und Recherchen zur Restaurierungsgeschichte. Mehrere Farbproben wurden aus Vermeers Gemälde entnommen und im Labor für Archäometrie der Hochschule für Bildenden Künste Dresden hinsichtlich ihrer Schichtung und Konsistenz analysiert. Diese Untersuchungen waren entscheidend für eine Neubewertung der großflächigen Übermalung des Cupidos im „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“. Nun konnte mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Übermalung nicht von Vermeer stammt, sondern mindestens mehrere Jahrzehnte nach Entstehung des Gemäldes und deutlich nach dem Tod des Künstlers aufgebracht worden war. Eine ganzflächige Röntgenfluoreszenzuntersuchung des Bildes, die 2017 mit Unterstützung des Rijksmuseums Amsterdam durchgeführt wurde, bestätigte die neuen Erkenntnisse zur Übermalung.
Aufgrund der Vielzahl der Indizien, die die Aussage zur nachträglichen Übermalung von fremder Hand stützen, haben die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, befürwortet durch die Expert*innenkommission, Anfang 2018 beschlossen, die Übermalungsschicht zu entfernen. Die Gesamtrestaurierung des Gemäldes lag in den Händen von Christoph Schölzel, Restaurator an der Restaurierungswerkstatt für Gemälde der SKD.
Nach dem Abschluss der Restaurierung Anfang des Jahres 2021 hat das Gemälde sein Aussehen grundlegend verändert. Im Hintergrund wurde ein stehender Liebesgott mit Bogen, Pfeilen und zwei Masken freigelegt, der als „Bild im Bild“ die Rückwand des Zimmers ziert. Er tritt auf die vor ihm am Boden liegenden Masken der Verstellung - ein Zeichen der aufrichtigen Liebe, die Betrug und Heuchelei überwindet. Die Anwesenheit des Liebesgottes in der Komposition trägt als bedeutungsschwerer „Kommentar“ wesentlich zur Bildaussage des Gemäldes bei.
Stephan Koja, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister und Skulpturensammlung bis 1800: „Mit dem ‚Brieflesenden Mädchen‘ findet Vermeer seinen ganz eigenen Stil. Es steht am Beginn einer Reihe von Gemälden, in denen einzelne Personen, meist Frauen, bei einer Tätigkeit innehalten, zur Ruhe kommen, sich besinnen. Vermeer spricht darin Grundfragen unserer Existenz an. So auch in unserem Bild: Mit der Wiedergewinnung des Cupido im Hintergrund wird erst die eigentliche Intention des Delfter Malers erkennbar. Über den vordergründig amourösen Kontext hinaus geht es um eine grundsätzliche Aussage zum Wesen wahrer Liebe. Wir haben davor also nur ein Rudiment betrachtet. Jetzt verstehen wir es als ein Schlüsselbild in seinem Oeuvre.“
Uta Neidhardt, Oberkonservatorin und Kuratorin der Ausstellung: „Das veränderte Aussehen des ‚Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster‘, übrigens auch an den von Übermalungen befreiten Bildrändern, ist ein Anlass, über die Art und Weise der Installation, über das visuelle „Funktionieren“ des Gemäldes neu nachzudenken. Die Bildränder wirken merkwürdig unvollendet – vielleicht hat Vermeer sie durch einen tatsächlichen Holzrahmen und deshalb in diesem „offenen“ Zustand belassen? Stellt man sich eine solche Konstruktion vor, dann denkt man gleich an die experimentellen Gemälde Delfter Kircheninterieurmaler mit ihren trompe-l’oeil-Vorhängen oder an die raffinierten Innenraumbilder Pieter de Hoochs.“
In der Ausstellung „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ (10. September 2021 bis 2. Januar 2022) wird das Gemälde in einem Ebenholzrahmen nach historischem Vorbild präsentiert.
Die Pressekonferenz anlässlich der Ausstellungseröffnung und Präsentation des vollständig restaurierten Gemäldes findet am 9. September 2021, 11 Uhr in der Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau am Zwinger statt. Um die hygienischen Anforderungen zu berücksichtigen, ist eine Anmeldung zum Pressetermin bis Montag, 6. September 2021, 23.59 Uhr unter presse@skd.museum unbedingt erforderlich.
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