Irrläufer

Zum Schutz vor Kriegseinwirkungen wurden die Bestände der Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft Dresden während des Zweiten Weltkrieges in verschiedene Depots außerhalb der Stadt ausgelagert. Im Mai 1945, unmittelbar nach Kriegsende, nahmen Trophäenbrigaden der Roten Armee die Suche nach diesen ausgelagerten Schätzen auf. Vom Sammelpunkt Schloss Pillnitz wurden die aufgefundenen Kunstwerke ab Juli 1945 als Kompensation für die von deutscher Seite verursachten Kriegsschäden in die Sowjetunion verbracht. So gelangte Kunstgut aus Dresden u.a. in das Puschkinmuseum in Moskau, in die Eremitage in Leningrad und in das Museum für östliche und westliche Kunst in Kiew – an eine spätere Rückkehr war ursprünglich nicht gedacht. In einer ersten Rückgabe wurden 1955/56 über 1200 Gemälde an die Gemäldegalerie Dresden zurückgegeben (hierzu auch Zurückgekehrte Kriegsverluste“.)
Im Jahr 1958 erfolgte eine weitere Rückgabe von insgesamt 1,5 Millionen Kunstwerken verschiedenster Gattungen an die DDR, davon allein 600.000 nach Dresden. Dafür reiste von August bis Dezember 1958 ein Team von 25 Museumsmitarbeiter*innen aus Berlin, Potsdam, Dresden, Leipzig und Weimar in die Sowjetunion - die Reiseaufträge für die deutschen Mitarbeiter*innen erfolgten sehr kurzfristig und überraschend. Vor Ort war Andrej Alexandrowitsch Guber, Chefkurator des Puschkinmuseums, fachlich verantwortlich. Als Leiter des gesamten deutschen Übernahmeteams war Erich Schebesta, Mitarbeiter des Ministeriums für Kultur der DDR, eingesetzt. Die sowjetischen Museen waren auf die Übergabe mit ausführlichen Listen zu allen Objekten gut vorbereitet. Daneben standen Tausende von Kisten und Packmaterial bereit.
Bei der Übernahme waren die Kunstwerke nach Material, nicht nach Museum sortiert. Dadurch kam es in umfangreichem Maße zu Fehlzuweisungen, d.h. viele Stücke gelangten in das falsche Museum. In den folgenden Jahrzehnten versuchten alle beteiligten Museen, dies zu bereinigen. Von SKD-Seite erfolgten umfangreiche Rückgaben an verschiedene Museen in Ost- und Westdeutschland.
Als Beispiel für eine solche Vermischung von Beständen seien die Dresdner Porzellansammlung und die Gothaer Sammlungen genannt. Keramiken aus Dresden wurden in Gotha identifiziert und umgekehrt. Viele Objekte wurden schon seit 1959 an den jeweils rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben, mancher Irrläufer verblieb unerkannt in den Beständen. Die Digitalisierung der für die Rückgabe 1958 erstellten, sogenannten Russischen Liste mit ihren fast 12.000 Positionen in Dresden und die Digitalisierung der historischen Fotos in Gotha ermöglichten einen erneuten Abgleich und die Erkenntnis, dass weitere Steinzeuge aus Gotha noch in Dresden sind. So konnten im November 2021 letztmalig einige Steinzeuge an die rechtmäßigen Eigentümer, die Stiftung Schloss Friedenstein in Gotha, übergeben werden.
Barbara Bechter
Rechercheobjekte der Irrläufer in der Online Collection


Literatur (in Auswahl)

Christiane Kaps, Der Neuanfang der Staatlichen Kunstsammlungen 1945 und die Rückkehr der Kunstwerke aus der Sowjetunion 1955 bis 1958 – dargestellt auf der Grundlage von Augenzeugenberichten. 2 Bd., Magisterarbeit TU Dresden 2006 (Exemplar im Archiv SKD).

Kulturstiftung der Länder / Deutsch-Russischer Museumsdialog, Projekt: Verlust + Rückgabe, Berlin 2008.

Kunstbesitz. Kunstverlust. Objekte und ihre Herkunft. Ausstellungskatalog der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2018/19.

Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hrsg.), Rückkehr 1958. Dresdener Kunstblätter 4/2018.

Barbara Bechter, Irrläufer in der Dresdner Porzellansammlung – Fehlzuweisungen bei der Rückkehr aus der Sowjetunion 1958 (in Vorbereitung)

 

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